In diesem Post möchte ich euch erzählen, wie wir die Zeit mit Julia nach der Geburt verbracht hatten.
Anfangs waren wir auf der Intensiv-Station. Dort war es extrem still. Vor allem stellt man sich immer darauf ein, wie das Baby dann schreien wird und die Ruhe vorerst mal vorbei ist. Bei uns war es anders. Diese erdrückende Stille war anfangs fast nicht auszuhalten.
Meine ersten Gedanken waren, was als nächstes kommen würde. Wann müssen wir unser Baby abgeben? Wann begraben? Wann geben wir wem Bescheid? Wann kann ich wieder nach Hause gehen? Wann gehe ich wieder zur Arbeit? Wo? Ich wäre am liebsten Aufgestanden, hätte alles schnell erledigt, spürte eine grosse Unruhe in der Ruhe. Das klingt widersprüchlich, war es vom Gefühl her auch.
Diese ersten Gedanken konnte ich glücklicherweise nach ein paar Minuten ablegen. Dann war ich bereit für unsere Tochter. Bereit, diese Situation anzunehmen, unsere Tochter zu riechen, zu sehen, zu fühlen und das immer wieder. Unsere Tränen flossen in Strömen. Wir waren sehr traurig. Viele Leute haben uns gefragt, ob wir es da schon realisiert hatten. Ja! Ich hatte von Anfang an realisiert, dass unsere Tochter gestorben war. Ich fühlte den grossen Schmerz, dass sie nicht mehr da war. Gleichzeitig fühlte ich mich so stolz, eine für uns perfekte Tochter in den Armen zu halten. Ich fühlte sogar Frieden, da ich wusste, dass es Julia im Himmel gut gehen würde. Ich hatte von Anfang an ein riesiges Vertrauen, dass Gott unsere Tochter nahe bei sich hat und es ihr gut geht. Wütend war ich nicht.
Ich hätte nie gedacht, dass ich so reagieren würde. Zuvor versuchte ich auch immer, stark zu sein. Das musste ich jetzt nicht. Meine Tränen flossen die ganze Zeit und es spielte mir keine Rolle, wenn jemand ins Zimmer kam. Ich war so sehr auf Julia, meinen Mann und mich konzentriert.
Julia war noch ganz warm. Sie sah aus, als wäre sie am Schlafen. Sie sah sehr zufrieden aus. Ich stellte mir die Frage, ob der Himmel so schön ist, wie sie zufrieden aussieht. Sie war ganz zart, hatte feine Wangen, ihre Fingerchen hatten alle einen Fingerabdruck, in ihren Händchen sah man die winzigen Äderchen. Ihre Augenbrauen und Wimpern waren wunderschön und sie hatte viele lange, braune Häärchen. Ihre eher dünnen Beinchen liessen uns erahnen, dass sie wahrscheinlich gelähmt war. Sie passte so gut in unsere Arme. Es fühlte sich wunderbar an.
Mein Mann ging mit der Hebamme im Gebärsaal unsere Kamera holen und gab ihr Julias Kleider und das Plüschtier, das wir ihr zur Geburt schenken wollten. Die Krankenschwester machte unsere ersten Familienfotos. Dann folgten sehr viele Fotos von unserer Tochter. Wir wollten viele Fotos haben!
Nach ein paar Stunden kam die Hebamme wieder zu uns. Diesmal war es eine andere Hebamme, da es einen Schichtwechsel gab. Auch sie war sehr einfühlsam und sagte immer wieder, wie hübsch unsere kleine Tochter wäre. Solche Sätze trösten, sie tun gut. Sie fragte uns, ob sie Julia schon waschen, messen, wiegen und anziehen soll. Wir waren damit einverstanden.
Sie fragte uns, ob wir den offenen Rücken schon gesehen hatten. Das kostete mich zu viel Überwindung. Sie ermutigte uns aber, es trotzdem zu tun. Der offene Rücken wäre nicht gross und würde gar nicht schlimm aussehen. Nach kurzem Zögern willigten wir ein. Es war nicht schlimm, ich hatte es viel grösser erwartet. Das Loch war etwa so gross wie ein 2-Franken-Stück. Und es stand nicht hervor. Konnte das wirklich Julias Todesursache sein? Ich meine, es gibt Kinder, dessen Loch im Rücken viel grösser ist und sich auch herauswölbt.
Die Hebamme nahm Julia in einem Bettchen mit. Dann kam schon wieder diese unaushaltbare Stille. Mein Mann rief unsere Familien und engstens Freunde an. Das war furchtbar! Schliesslich hatten sich alle so auf die Ankunft von Julia gefreut. Wir sagten, dass sie am Nachmittag vorbeikommen dürften, wenn sie das wollten. Allerdings wollten wir am ersten Tag nur unsere beiden Familien sehen.
Um 11.30 Uhr wurde ich auf die normale Station verlegt. Mir ging es körperlich gut und hatte noch keine Schmerzen. Die Narkose wirkte noch. Auf dem Weg auf die Station fragte ich, ob ich bitte in ein Zimmer gehen dürfte. Ich würde es im Moment nicht aushalten, eine glückliche Mutter mit einem schreienden Baby neben mir zu haben. Die beiden Krankenschwestern sagten, dass sie das ohnehin vorgehabt hätten. So kam ich in ein Einzelzimmer ganz am Ende des Flurs, ein Stockwerk über der Geburtenabteilung.
Um 12.00 Uhr kamen dann meine Eltern schon. Sie hatten sich sofort auf den Weg gemacht. Nach und nach füllte sich das Zimmer. Auch der Gynäkologe kam vorbei und fragte, wie es uns ging. Es sagte auch, dass Julia viel grünes Fruchtwasser hatte. Das wäre ein Zeichen, dass sie ins Fruchtwasser gestuhlt hätte, weil sie vielleicht im Stress war. Sie hätte deswegen auch nicht beatmet werden können, weil ihre Luftwege verklebt waren. Sie war da allerdings auch schon von uns gegangen.
Dann brachte unsere Hebamme Julia wieder zu uns. Sie lag wunderschön in ihrem Bettchen. Unsere Familien durften Julia kennenlernen und auch halten. Das war wichtig, denn nun wussten sie auch, von wem wir sprachen, auf wen wir uns so gefreut hatten und welch grossen Schmerz wir empfanden. Dabei ist ja nicht zu unterschätzen, dass auch unsere Familien unter dieser Situation litten.
Den ganzen Nachmittag über war unser Mädchen bei uns. Es war wunderschön, sie festhalten zu können! Sie sah sehr hübsch aus in ihrem weissen Strampler. Unsere Familien bestaunten Julia und hielten sie fest. Eigentlich sah man ihr nicht an, dass sie nicht mehr lebte, ausser, dass sie sich nun kalt anfühlte.
Am Abend verbrachten mein Mann und ich alleine Zeit in unserer kleinen Familie. Wir hatten noch ein Gespräch mit meinem Gynäkologen und der Hebamme bezüglich Autopsie. Da wir uns für die Autopsie entschieden hatten, wussten wir, dass wir am nächsten Morgen unser Mädchen weggeben müssen. Wir haben also so viel "Julia" wie nur möglich eingesogen und schöne Erinnerungen geschaffen!
Die Nacht war schwierig. Eigentlich war ich von den Schmerzmitteln ziemlich müde, auch von den vielen Emotionen. In den Träumen machte ich immer wieder die Geburt durch. Zudem vermisste ich unser Mädchen sehr. Sie hatten sie über die Nacht mitgenommen, sodass sie nicht zu sehr entstellt sein würde am Morgen. Ich war zugleich auch froh, ein bisschen Abstand zu bekommen. Meine Bindung zu Julia war so gross, dass ich es mir sowieso nicht vorstellen konnte, sie überhaupt wieder her zu geben.
Am Morgen früh brachte unsere Hebamme, die bei der Geburt dabei war, Julia wieder. Wir sahen, dass sich der Körper bereits veränderte. Das machte uns die Entscheidung auch einfacher. So sagten wir, dass wir sie in guter Erinnerung behalten möchten und sie nach der Autopsie nicht mehr sehen wollen. Mir machte es grausam zu schaffen, mich immer wieder von ihr verabschieden zu müssen. Ich wusste, dass dieser Zeitpunkt irgendwann kommen würde.
So verbrachten wir noch einmal eine wunderschöne, sehr schmerzhafte Stunde mit Julia. Ich prägte mir ein, wie gross sie ist, damit ich das nie vergessen würde. Wir sprachen mit ihr und hielten ihr Händchen.
Diese Stunde ging schnell vorbei. Unsere Hebamme musste sie für die Autopsie abholen kommen. Das war der nächste unendlich schwierige Schritt. Wir wussten, dass wir sie nun das letzte Mal gesehen hatten. Das war furchtbar! Wir weinten bitterlich, konnten uns nicht mehr beruhigen. Doch wir mussten sie abgeben.
Danach kam die schlimmste halbe Stunde. Wir waren alleine. Unser Mädchen war weg und wir so traurig und der Schmerz liess nicht nach.
Erst später, als die Hebamme wieder kam, konnten wir miteinander weinen, über unsere Schwangerschaft mit Julia erzählen und sie brachte uns Fotos von ihr, wo wir sie am dringensten benötigt hatten. Auch ihre Fussabdrücke und eine Trauerkärtchen der Station. Sie gab sich so viel Mühe, uns das Leid wenigstens ein bisschen wegzunehmen. Sie packte auch noch zwei Armbändchen aus. Eines mit ihren Daten drauf und das andere war rosarot mit ihrem Namen. Julia durfte ihre behalten und so haben wir nun etwas, was Julia auch hat! Solche Kleinigkeiten kriegen ein grosses Gewicht, es sind unsere Erinnerungen an unsere Julia!